Von Stückzahlen zu Datenpunkten: Wie KI die strategische Logik der Versicherungsbranche neu definiert

Die Erfahrungskurve der Versicherer verschiebt sich und damit auch die Unternehmensstrategie: Datenqualität und Modell-Training entscheiden über Effizienz. KI macht jahrzehntelange Erfahrung skalierbar – und sogar einkaufbar. Wer Datenströme klug nutzt, baut den Burggraben der Zukunft.

Von Stückzahlen zu Datenpunkten: Wie KI die strategische Logik der Versicherungsbranche neu definiert

Künstliche Intelligenz verschiebt das Fundament der Erfahrungskurve von klassischen Lerneffekten zu datengetriebenen Modellen

Die Erfahrungskurve prägt seit den 1960er-Jahren das strategische Denken der Wirtschaft: Mit jeder Verdopplung der kumulierten Produktion sinken die Stückkosten um einen konstanten Prozentsatz. Auch in der Versicherungswirtschaft wirkte diese Logik. Mit steigender Fallzahl, mit mehr Erfahrung, wurden Prozesse effizienter, Mitarbeiter routinierter und Systeme verfeinert – Stückkosten sanken, Qualität stieg.

Künstliche Intelligenz verändert dieses Bild grundlegend und bewirkt drei fundamentale Verschiebungen: Sie beschleunigt das Lernen und die Umsetzung von Verbesserungen, verlagert die entscheidende Ressource von reinen Fallzahlen hin zu Daten und Modellen und entwertet teilweise die klassischen Schutzmechanismen großer Versicherer.

KI als Beschleuniger der Erfahrungskurve

Die Mechanik der Erfahrungskurve bleibt zunächst bestehen. Versicherer profitieren weiterhin davon, dass sie mit steigender Zahl an Schadenmeldungen oder Underwriting-Entscheidungen ihre Prozesse verfeinern. Doch die Geschwindigkeit verändert sich dramatisch.

Wo es früher Jahre brauchte, bis neue Erkenntnisse Eingang in Richtlinien, Handbücher und Systeme fanden, verkürzt KI diese Zyklen auf Wochen oder gar Tage. Ein Sprachmodell, das Schadenmeldungen verarbeitet, lernt mit jeder neuen Interaktion; ein Bildmodell für Kfz-Schäden verbessert sich kontinuierlich durch jedes eingereichte Foto.

Generative KI macht diesen Effekt besonders sichtbar. In der Schadenkorrespondenz können Modelle heute Schreiben an Kunden in Echtzeit formulieren: in der Regel rechtssicher, auf den konkreten Fall bezogen und in verständlicher Sprache. Sachbearbeiter prüfen nur noch. In der Triage von Erstmeldungen übernehmen LLMs die Zusammenfassung, Klassifikation und Nachforderung fehlender Informationen. Und im Underwriting lesen sie medizinische Unterlagen oder Beratungsprotokolle, extrahieren Risikofaktoren und schlagen Entscheidungen vor.

Das Ergebnis: Kosten sinken schneller, Bearbeitungszeiten verkürzen sich, Kundenzufriedenheit steigt. Versicherer, die frühzeitig solche Systeme einsetzen, schaffen Lernkurvenvorsprünge, die nur schwer einzuholen sind.

Die neue Erfahrungskurve: Daten und Modelle statt Stückzahlen

Noch einschneidender ist der Paradigmenwechsel, den KI in der Logik der Erfahrungskurve bewirkt. Effizienz entsteht nicht mehr primär durch die Masse der bearbeiteten Fälle, sondern durch die Qualität und Quantität der Daten, die in Modelle einfließen.

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Wer über die besten, gegebenenfalls auch synthetischen, Daten verfügt und sie am schnellsten in Modellverbesserungen übersetzt, erreicht die steilste Lernkurve – unabhängig davon, ob er der größte Anbieter am Markt ist.

Jeder gefahrene Kilometer bei der Telematik liefert Datenpunkte, die das Pricing verbessern. Ähnliches gilt für Gesundheits-Apps, Smart-Home-Sensorik oder Werkstatt- und Arztberichte, die in Schaden- und Leistungsprozesse einfließen.

Generative KI verstärkt diesen Effekt. Sie kann Freitexte aus Chats oder E-Mails automatisch in strukturierte Datenpunkte übersetzen, Policentexte mit Kundenfragen verknüpfen oder sogar fehlende Trainingsdaten durch synthetische Beispiele ergänzen. Dadurch entsteht eine neue Art von Erfahrungskurve: Die Kosten sinken, je mehr Daten verwertbar gemacht und je besser Modelle trainiert werden.

Für Versicherer bedeutet das eine strategische Verschiebung. Marktführerschaft entsteht nicht mehr nur aus Bestandsgröße, sondern aus der Fähigkeit, Datenströme zu erschließen, Feedbackschleifen zu schließen und Modelle kontinuierlich zu verbessern.

Strategischer Bruch: Wenn Erfahrung kommoditisiert wird

Die vielleicht größte Herausforderung: KI macht klassische Erfahrung in Teilen austauschbar. Was über Jahrzehnte als Wettbewerbsvorteil galt – umfangreiche Schadenhistorien, eingespielte Prozesse, tiefes Fachwissen – lässt sich heute und zukünftig immer mehr in Modellen kodifizieren und damit potenziell am Markt einkaufen.

Ein InsurTech, das auf eine entsprechend trainierte generative KI zurückgreift, kann in wenigen Monaten dieselbe Qualität in der Schadenkorrespondenz oder im Underwriting erreichen, für die etablierte Versicherer jahrzehntelang ihre Expertise aufgebaut haben. Externe Dienstleister bieten KI-gestützte Claims-Services „as a Service" an, die selbst kleinen Playern High-End-Kompetenz zugänglich machen.

Damit verlieren Größe und Erfahrung als Burggraben an Bedeutung. Neue Schutzmechanismen entstehen woanders: in proprietären Daten, in der Fähigkeit, GenAI transparent und regulatorisch sauber einzusetzen, im tatsächlichen Kundenzugang und in der Exzellenz der Integration aller dieser Bausteine.

Wer es schafft, nicht nur Modelle einzukaufen, sondern sie mit eigenen Daten zu füttern, in Prozesse einzubetten und ihre Ergebnisse für Kunden, Mitarbeiter und Regulator nachvollziehbar zu machen, baut den Vorsprung der Zukunft.

Neue Steuerungslogik: Lernen messen

Wenn Erfahrung sich verschiebt, müssen auch die Kennzahlen neu gedacht werden. Neben klassischen Prozesskosten und Bearbeitungszeiten braucht es Metriken wie:

  • Coverage-Rate der KI: In wie vielen Fällen leistet GenAI bereits verwertbare Vorarbeit?
  • Time-to-Incorporate: Wie schnell fließen neue Erkenntnisse in Modelle und Prozesse zurück?
  • Guardrail-Score: Wie zuverlässig bestehen KI-Antworten die internen Qualitäts- und Compliance-Checks?
  • Human-in-the-Loop-Yield: Welcher Anteil der Vorschläge wird ohne oder mit minimaler Anpassung übernommen?

Solche Kennzahlen machen aus Erfahrung ein bewusst gesteuertes Betriebssystem – statt einen schwer greifbaren, zufälligen Nebeneffekt.

Ausblick: Transformation der strategischen Grundlagen

Die Erfahrungskurve hat nicht ausgedient. Doch ihre Einheit wird sich verschieben: von Fallzahlen zu Datenpunkten, von Prozesshandbüchern zu lernenden Modellen, von mühsam aufgebautem Wissen zu kontinuierlichen Feedbackschleifen.

Versicherer, die diesen Wandel verstehen, können KI als Turbo ihrer Lernrate nutzen, Daten und Modelle zu neuen Kurven formen – und sich auf die Burggräben konzentrieren, die auch im Zeitalter der generativen KI Bestand haben.